Es recht zu machen jedermann, ist eine Kunst, die keiner kann

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Datum:
Di. 26. Mai 2020
Von:
Beate Schmitz

Weit weg von den Menschen lebte ein Vater mit seinem Sohn. Als der Sohn größer wurde, hatte er einen Wunsch. "Ich möchte mich in der Welt umsehen und hören, was andere Menschen so meinen", sprach er zu seinem Vater. Dieser schüttelte den Kopf.

"Wünsch dir das nicht, mein Sohn, jeder sagt nämlich etwas anderes. Was du auch tust, nie kannst du es allen recht machen."

"Das glaube ich nicht", der Bub gab nicht eher Ruhe, bis sich der Vater mit ihm aufmachte.

So zogen sie in die Welt hinaus. Der Vater schritt voran, sein Sohn ging neben ihm, und am Halfter trabte der Esel. So begegnete ihnen ein Bauer, der sprach: "Warum lasst ihr den Esel müßig gehen? Er kann doch einen von Euch tragen."

Da rief der Sohn guter Dinge: "Der Mann hat recht! Vater, steig‘ auf!"

Gesagt, getan. Der Vater setzte sich auf den Esel, und der Sohn lief nebenher, bis sie auf zwei Wanderer trafen. Einer der Wanderburschen stieß seinen Kumpel in die Rippen und sagte: "Es ist eine Unverschämtheit, dass der Vater reitet und den Jungen zu Fuß gehen lässt."

Sie schüttelten den Kopf und zogen ihres Weges. Vater und Sohn schauten sich an und tauschten die Rollen. Der Sohn ritt auf dem Esel voraus, und der alte Mann lief zu Fuß hinterher.

Bald trafen sie eine Frau, die im Wald Holz gesammelt hatte. Sie sah die beiden und schimpfte: "Es ist eine Schande, dass der Vater zu Fuß geht, während das feine Söhnchen reitet."

Kopfschüttelnd zog sie weiter. Der Sohn schämte sich und meinte zum Vater: "Die Frau hat recht. Setze dich zu mir auf den Esel, Vater."

Gemeinsam ritten sie weiter, bis ihnen die Kutsche eines feinen Herrn entgegenkam. Sie plauderten über Handel und Wandel miteinander. Beim Abschied sprach der vornehme Herr: "Der treue Esel wird bald eingehen, wenn er die schwere Last von zwei Personen weiterhin schleppen muss."

So beschlossen sie das Tier gemeinsam zu tragen. Sie banden ihm ein breites Leinenband um seinen Leib, steckten eine Stange hindurch und hoben sich jeder ein Ende davon auf die Schulter.

Ein paar Stunden hatten sie den Esel geschleppt, als sie an ein Wirtshaus kamen. Davor saßen fröhliche Leute. Einer schrie: "Seht die Dummköpfe dort! Die tragen ihren Esel, anstatt auf ihm zu reiten!" Alle lachten.

"Wenn die beiden schon nicht reiten wollen, warum führen sie den Esel denn nicht am Halfter hinter sich her?" "Warum tun wir nicht, was die Leute sagen?" fragte der Sohn.

"Weil wir so von zu Hause losgezogen sind", antwortete der Vater.

"Um es allen recht zu machen, bin ich geritten, bist du und sind wir beide geritten. Wir haben den Esel sogar getragen."

"Kann man es denn keinem Menschen recht machen?" fragte der Junge.

"Nein, das kann man nicht, mein Sohn, wie du ja selbst gesehen hast", sprach der weise Vater. Beide waren froh und glücklich, als sie abends wieder friedlich in ihrer gemütlichen Hütte saßen.

In den letzten Wochen ist mir diese Geschichte immer mal wieder in den Sinn gekommen.

Wir befinden uns in einer Zeit, in der keiner so richtig weiß, was richtig oder falsch ist. Keiner weiß wirklich wie sich die Situation in den nächsten Wochen weiter entwickelt. Wir sind hin und her gerissen zwischen der Verantwortung für unsere Gemeinden und dem Gedanken, dass jeder für sich selbst die Verantwortung trägt. Wir bekommen Rückmeldungen aus den Gemeinden, die wir natürlich ernst nehmen. Viele Anregungen sind gut gemeint und genau wie in der Geschichte mit dem Vater und dem Sohn haben alle irgendwie Recht, jeder aus seiner Perspektive.

Ich kann nur hoffen, dass wir mit unseren neuen Entscheidungen einen guten Kompromiss für alle gefunden haben. Bleiben sie gesund, nehmen sie Rücksicht auf Ihren Gegenüber und zeigen Sie Verständnis für die Situation in der wir uns alle befinden.

Beate Schmitz  
Leitungsteam